Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte 2003

Im November 2003 führte der Bauforscher und Mittelalterarchäologe Tilmann Marstaller, Universität Tübingen, eine baugeschichtliche Kurzuntersuchung der Sankt-Georgs-Kirche durch. Mit einerseits überraschenden, andererseits rätselhaften Erkenntnissen.

 

Auf Basis einer dendrochronologischen Analyse durch das Jahrringlabor Jutta Hofmann, Nürtingen, konnte die Baugeschichte gegenüber bisherigen Annahmen grundlegend korrigiert werden. Dendrochronologie ist eine wissenschaftliche Methode, die anhand der Jahresringe von Bäumen deren Wachstumszeit und das Fälldatum präzise ermittelt (trockene Jahre = schmale Ringe, nasse Jahre = breite Ringe, beides ergibt einen zeitlichen Fingerabdruck des Baumes).

 

„Die Auswertung der Proben ergab ein überraschend klares Bild über die Entstehungszeit der einzelnen Bestandteile der Kirche“, schreibt Marstaller. Die Kirche hat demnach drei einheitliche Dachstühle, die je einer Zeit zuzuordnen sind. 1425 wurde der Dachstuhl über dem Chor aufgeschlagen, 1604 der über dem jetzigen Langhaus. Wobei 1604 Balken von 1425 wiederverwendet worden sind – historisches Recycling. 1476 wurde das Turmdachwerk erstellt, der Turm wurde also erst 1475/76 gebaut, nämlich nach der Erhebung Linsenhofens zur Pfarrstelle 1467 durch den Bischof von Konstanz.

 

„Ältester, weitgehend unveränderter Bauteil ist der Dachstuhl über dem Chor der Kirche, dessen Proben einheitliche Fälldaten im Winter 1424/25 ergaben“, so Marstaller weiter. 1425 wurde auch das Dach über dem später veränderten, ursprünglichen Langhaus der Kirche aufgeschlagen, wie es die im Dachstuhl von 1604 verbauten Balken beweisen. Es kann vermutet werden, so Marstaller, dass angesichts der Holzbearbeitung die erste Decke der Kirche ein unterteiltes Tonnengewölbe gewesen sei. Heute hat sie eine flache Decke.

 

Der Chordachstuhl ist ein einmaliges Zeugnis der Bauzeit, ist er doch nahezu im Urzustand erhalten, ein echtes Kleinod unserer Kirche und ein Beleg für die Kunstfertigkeit der damaligen Handwerker.

 

Es wurde 1425 in allen Bauteilen nur Eichenholz verwendet, das im Umkreis gewachsen ist. Auch beim Turm wurde 50 Jahre später Eiche aus der Region verwendet.

 

Das ist ein großer Unterschied zum Dachstuhl 1604. Alle neuen Balken dort bestehen aus Nadelholz. Da diese Balken Wiedlöcher haben, die zum Zusammenbinden von Flößen nötig waren, stammen sie eindeutig aus dem Floßholzhandel am Neckar.

 

„Das ausgiebige Holzrecycling und der aufwändige und zugleich kostspielige Transport der Floßhölzer über Land, weist auf akuten Bauholzmangel in der Umgebung von Linsenhofen um 1604 hin“, resümiert Marstaller. Wie auch Bilder der Zeit belegen, war unsere Region durch den Bauboom des 16. Jahrhunderts nahezu entwaldet. Mit allen ökologischen und wirtschaftlichen Problemen, die daraus entstanden sind.

 

Aufgrund dieser Befunde lässt sich zeigen, dass die Bauinschrift stimmig ist: die Kirche wurde 1603/1604 erweitert. Allerdings wissen wir nicht – und das ist und bleibt ein Rätsel – was genau gemacht wurde. Marstaller: „Eine Erweiterung nach Westen ist sehr wahrscheinlich, findet sich doch im westlichen Teil der Südwand des langgestreckten Kirchenschiffs ein spätrenaissancezeitliches Portal. Anhand der S-förmigen Doppelvoluten [schneckenförmige Verzierungen] am unteren Ende der Stabwerkrahmung ist es leicht von dem östlichen, in einem Kielbogen endenden Südportal aus der Zeit um 1424/25 zu unterscheiden.“

 

„Eine weitere Erweiterung könnte in nördlicher Richtung erfolgt sein. Darauf deuten die asymmetrische Lage der Langhausnordwand, sowie das aufwändige Hängesprengwerk im Dach, das nur bei größeren Spannweiten notwendig ist. Irritierend ist das Westportal, das formal zum spätmittelalterlichen Neubau der Kirche gehört. Da das Westportal sich exakt in der Mittelachse der Westwand befindet, kann es nicht älter sein als die bestehende Nordwand der Kirche. Es spricht somit alles dafür, dass es bei der Bauerweiterung wiederverwendet wurde.“

 

Letzte Klarheit wird es dann geben, wenn das Mauerwerk und das Fundament in Zukunft einmal freigelegt wird. Und wenn die Linsenhöfer Kirchengemeinde dann eine archäologisch-baugeschichtliche Untersuchung durchführen lässt. Diese kann dann anhand von Baufugen, des Mauerwerkaufbaus und anderer Hinweise die gewonnenen Erkenntnisse 2003 zu einem stimmigen Gesamtbild zusammen setzen. Dann wissen wir mehr.

 

Unsere Generation hat den ersten Schritt getan. Andere müssen den nächsten gehen.

 

 

Tabelle 1: Baugeschichtliche Hypothese nach dendrochronologischer Analyse

1424/25

Chor und Langhaus; erster Kirchbau an dieser Stelle (gegen bisherige Meinung)

Eiche

1475/76

Turmbau (nach Pfarreierhebung)

Eiche

1604

Erweiterung Langhaus:
Verlängerung in westliche Richtung, Recycling westliches Hauptportal;
Verbreiterung in nördliche Richtung.

Recycelte Eiche von 1425,

geflößtes Tannenholz aus dem Schwarzwald

 

Tabelle 2: Wachstumsgeschichte ausgewählter Balken (darunter eine 162-jährige Eiche)

Holzart/Ort in der Kirche

Wachstumszeit

Einschlag (immer Winter)

Eiche/Chordachstuhl

1366-1424

1424/1425

Eiche/Turmhelm

1313-1475 (!)

1475/1476

Eiche/Turmhelm

1425-1475

1475/1476

Tanne/Langhausdachstuhl

1528-1602

1602/1603

 

 

 

Die Untersuchung geschah im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG finanzierten Gemeinschaftsprojekts "Haus und Umwelt, Landnutzung und Kulturlandschaft im Vorland der Schwäbischen Alb vom 14. bis 17. Jahrhundert" der Universität Tübingen und des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg (2000-2005). Wir danken Tilmann Marstaller dafür, dass unsere Sankt-Georgs-Kirche in dieses Projekt mit einbezogen werden konnte. Eine Zusammenfassung, teils mit Bildern, der Ergebnisse finden Sie hier oder hier